Bericht von Gisela Maus, geb. Blöck, über ihre Kindheit in Groß Klingbeck, Ostpreußen.

KlingbeckIch wurde im Jahr 1938 als drittes Kind der Eheleute Emma, geb.Werner, und ihres Ehemannes Franz Blöck geboren. Mein Vater wurde im Jahr 1904 in Neudamm bei Königsberg geboren. Seine jüngste Schwester, Lisa, war verheiratet mit Fritz Moldenhauer. Sie lebten mit ihren zwei Kindern Reni und Hans auch in Groß Klingbeck. Sie hatten eine Stellmacherei. Lisa, meine Tante, und ihr Sohn Hans sind noch 1945 in Groß Klingbeck verstorben. Tochter Renate konnte nach dem Krieg zu ihrem Vater nach Marl in Westfalen ausreisen.

Meine Großmutter mütterlicherseits ist Caroline Werner, geb. 1876 in Wolhynien, mein Großvater Gottfried, geb. 1860. Er ist etwa 1939 verstorben. Noch heute könnte ich den Weg zu meiner Oma laufen: Entlang des Feldrains, über einen kleinen Bach von Stein zu Stein hopsen, und dann unterhalb des Totenberges zum Haus der Oma. Der Totenberg soll seinen Namen deshalb erhalten haben, weil dort sehr viele französische Soldaten des Napoleonfeldzuges beerdigt waren. Als Kinder sind wir immer mit einem leichten Schaudern vorbeigegangen. Auf der anderen Seite der Hauptstraße, die von Zinten nach Königsberg führte, lag der Friedhof. Unten an der Straße lagen die Gräber der Dorfbevölkerung und oben auf der Anhöhe lagen die Gräber der Familie der „von der Gröbens.“ Dieser Friedhof wurde nach dem Krieg durch die Besatzermächte total zerstört. Ich habe gehört, es gäbe nichts mehr, was daran erinnere.

Der Bauernhof meiner Eltern lag an der Hauptstraße von Zinten nach Königsberg direkt am Abzweig nach Pörschken, unserem Kirchort. Unsere Nachbarn waren Tobiss und Peters. Im Dorf gab es einen Kaufmann Freitag. Wir Kinder gingen manchmal dorthin, um kleine Besorgungen für unsere Mutter zu machen. Ich meine heute manchmal noch, diesen eigenartigen Geruch des Ladens in meiner Nase zu spüren. Neben der Straße befand sich ein kleiner Graben mit einer Gras bewachsenen Böschung. Ich erinnere mich an viele gelbe Schlüsselblumen an der Böschung, von denen wir unserer Mutter einen Strauß pflückten.

Der Hof meiner Eltern bestand aus dem Wohnhaus, wo auch die Eltern meines Vaters lebten, neben dem Wohnhaus die Stallungen für das Vieh, zwei Scheunen, eine, in der Erntemaschinen, Geräte und eine Kutsche standen, und eine Scheune für Stroh, Heu und Getreide. Neben dem Haus befand sich ein großer Garten mit einer Pumpe, mein Vater versuchte sich auch als Imker. Lange Reihen von Johannisbeeren, Stachelbeeren und Rhabarber sowie Apfelbäume warteten darauf, abgeerntet zu werden, so dass im Sommer regelmäßig meine Tanten zu Besuch kamen.

Mittelpunkt des Dorfes war natürlich das kleine Schloss der Familie von der Gröben. Ich meine zu wissen, es lag von Wasser umgeben auf einer kleinen Anhöhe.

Ich habe es so niedergeschrieben, wie ich es als Kind gesehen und gefühlt habe.

Wir sind so frei und ungezwungen aufgewachsen. Es hat uns nichts gefehlt. Unsere Spielgefährten waren die Nachbarskinder und unsere Tiere.

Erst im Laufe des Jahres 1944, als viele Flüchtlinge aus entfernteren östlichen Gebieten wie Litauen und Lettland durch unser Gebiet zogen und auch bei uns übernachteten, bekamen wir eine Ahnung vom herannahenden Krieg. Mein Vater war etwa seit 1942 eingezogen und meine Mutter, die mit drei kleinen Kindern den Landwirtschaftsbetrieb aufrechterhalten musste, hatte Unterstützung von wechselnden Kriegsgefangenen aus Polen und Frankreich.

Als dann die Lage für meine Mutter immer schwieriger wurde und eines Nachts der Himmel in nördlicher Richtung blutrot war, weil Königsberg brannte, plante meine Mutter mit Hilfe der französischen Kriegsgefangenen die Flucht. Das alles musste heimlich geschehen, denn nach den Meldungen im Radio ging ja Deutschland immer noch dem Endsieg entgegen, und das Verlassen der Heimat wurde als Landesverrat bestraft.

So war auch unser Aufbruch mit überbautem Leiterwagen für uns Kinder eher ein Abenteuer, das aber am selben Tag noch beendet wurde. Wir wurden durch das Militär wieder zurückgeschickt, weil für Groß Klingbeck noch keine Erlaubnis zum Verlassen ausgestellt war. So kamen wir spät abends wieder bei unserem Haus an, um am nächsten Morgen in aller Frühe unsanft geweckt und zum Verlassen unserer Heimat aufgefordert zu werden.

In der Folgezeit ging dann auch das Grauen der Erwachsenen beim Anblick der vielen Toten am Wegrand und im Straßengraben oder auch erhängter Leute in den Bäumen auf uns Kinder über.

Der Weg über das zugefrorene Frische Haff mit weiteren zigtausend Pferdewagen sowie vieler Menschen und Lastwagen, die die Eisdecke in eine dünne und brüchige Matschstrecke verwandelten, ist mir wie ein böser Traum in Erinnerung. Ohne das Geschick unserer zwei Franzosen, unseren Wagen richtig über sicheres Eis zu lenken, wären wir sicher nicht heil hinüber gekommen.

Nach dem Überqueren des Haffs lagerten wir im Freien in der Nähe des Wassers. Ich erinnere mich mit Grauen, wenn morgens, sobald es aufklarte, die ersten Flieger im Tiefflug und mit schrillem Getöse über uns herflogen und ihre Bombenlast abwarfen. Die Menschen schrien, es knallte überall und mein zwei Jahre jüngerer Bruder schrie wie am Spieß: „Tante Else, sind das deutsche Flieger?“ Unser Pferdegespann stand wie tausende andere auch auf der Nehrung, weil wir darauf warteten, in den Westen zu kommen, aber der Weg war schon versperrt.

Bei den Fliegerangriffen flüchteten wir unter den Pferdewagen. Die Pferde mussten aber täglich mit Wasser und Futter versorgt werden. Im Winter in Ostpreußen bei zweistelligen Minusgraden keine leichte Aufgabe. Die wenigen Männer, die den Treck begleiteten, weil alle wehrfähigen Männer eingezogen waren, schlugen Löcher in die Eisdecke des Haffs, um Wasser zu schöpfen; Bei dieser Arbeit wurde der uns begleitende Franzose Paul durch Granatsplitter lebensgefährlich verletzt. Meine Mutter und Tante Else gingen in das Lazarett, um ihn ärztlich versorgen zu lassen. Der andere Franzose, den wir Salomon nannten, bat meine Mutter, bei seinem Landsmann bleiben zu dürfen.

Köln, im Mai 2015

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Nachtrag: Über einen französischen Verein von Kriegsgefangenen aus dem StaLag IA habe ich den vollen Namen des Franzosen Salomon erfahren. Er ist nach Frankreich zurückgekehrt und hat bis 2006 gelebt, war verheiratet und hat mit seiner Frau drei Kinder gehabt. Von dem Franzosen Paul, der beim Pferdeversorgen verwundet wurde, konnte ich leider nichts in Erfahrung bringen. Es wäre schön, beiden französischen Familien auch nach dieser langen Zeit noch „Danke“ sagen zu können. Anja Fischer, Enkelin von Emma und Franz Blöck

Schwerin, im Mai 2015

3 Kommentare

    • Anja Fischer auf August 11, 2017 bei 8:21 pm
    • Antworten

    Lieber Herr Perbandt, am 17. und 18. August fahren wir nun endlich nach Russland und übernachten im Safaripark Mushkino alias Gut Morren. Nun wollte ich mir die Karte von Groß Klingbeck ausdrucken, die auf der alten Webseite zu finden war, jemand hatte diesen Dorfplan aus der Erinnerung gezeichnet. Aber nun ist er nicht mehr zu finden. Er ist uns sehr wichtig, um den Ort zu begehen. Wäre es Ihnen möglich, den noch einmal online zu stellen oder mir per Email zu schicken (anjastefansn@aol.com). Das wäre schön! viele Grüße! Anja Fischer

      • Ewgen auf Februar 25, 2018 bei 7:57 pm
      • Antworten

      Hallo. Ich heisse Ewgen, ich wohne in der Stadt Kaliningrad. Gross Klingbeck gibt es nicht mehr. Es sind jetzt keine Teiche, keine Bruecke, keine Hauser. Es sind Dorfweg mit riesigen Baumen zu sehen, Park und Fundamenten von Hauser.

        • Maus auf Januar 22, 2021 bei 10:40 am
        • Antworten

        Hallo Ewgen, ich bin Gisela, geboren in gross klingbeck, Ich habe ihre Nachricht erst jetzt gesehen. Vor 2 Jahren habe ich ein paar Tage Urlaub in Stegna am haff verbracht und mit meiner Nichte nach meinem Geburtsort gesucht. Wir haben die Stelle gefunden, wo mein Elternhaus stand. Vom Dorf fanden wir nichts mehr auch nicht vom Friedhof.
        Wir haben auch für 2 Tage Kaliningrad besucht.
        Was haben sie für eine Verbindung zu Groß Klingbeck

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